Statement von Patrick Reingruber zu § 173 StGB – Teil II

Statement von Patrick Reingruber zu § 173 StGB – Teil II

Des Pudels Kern: § 173 StGB

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PRÄAMBEL

Man liest stets von einer “Legalisierung”, wodurch suggeriert wird, dass es keinen Auffangmechanismus gibt. Der Autor vermutet seinerseits vielmehr eine Dysfunktionalität strafrechtlicher Sanktionierung, soweit sich die Sanktionsbedürftigkeit auf die staatliche Pflicht zum Rechtsgüterschutz berufen möchte. Schließlich ist das tatsächliche Rechtsgut dieser Strafnorm bereits nicht unerheblichen Zweifeln ausgesetzt. Gerade für den überwiegenden Anteil an Sachverhalten, der in dysfunktionalen Familienstrukturen seinen Ursprung hat, ist die absolute Strafe in Form des Freiheitsentzuges zum Rechtsgüterschutz als Lösung des Problems ggf. ferner als ein präventiver Ansatz im Bereich des Gewaltschutzrechts (“Hilfe statt Strafe”).

I. § 173 StGB – Aufbau

Im Vorfeld empfehle ich in diesem Zusammenhang die Lektüre dieser sehr guten Beiträge:

  • Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Hier

  • Das Gutachten von Al-Zand/Siebenhüner: Hier

  • Die Stellungnahme des Ethikrates: Hier

In einem ersten Statement habe ich mich mit der medialen Aufarbeitung des Beschlusses der Jungen Liberalen aus 2007 und diesbezüglich mit § 173 StGB beschäftigt. Nunmehr soll hier die Strafnorm nochmal für alle Leser und Leserinnen genauer beleuchtet werden:

Strafgesetzbuch (StGB)
§ 173 Beischlaf zwischen Verwandten

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.

(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.

A.) Tatbestand

1.) objektiver Tatbestand

Tathandlung ist der Vollzug des Beischlafes mit einem leiblichen Abkömmling (Abs. 1), meinem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie (Abs. 2 S. 1) oder mit einem leiblichen Geschwisterteil (Abs. 2 S. 2).

Beischlaf bedeutet die Vereinigung der Geschlechtsteile von zwei Personen verschiedenen Geschlechts1.

Der Vollzug des Beischlafes ist das ********** des männlichen ******, mindestens zum Teil, in die ******. Hiervon nicht umfasst ist das bloße Berühren des weiblichen Geschlechtsteils mit dem männlichen Konterpart2. Das ********** in den ************* auf der anderen Seiten erfüllt den objektiven Tatbestand3. Beischlafsähnliche, ******** Handlungen – beispielsweise der ****4– oder ****verkehr – genügen den Anforderungen an die Erfüllung des Tatbestands nicht5. ******** Handlungen zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts sind folglich von der Erfüllung des Tatbestands ebenso ausgeschlossen.

Anmerkung: ************* Handlungen hingegen waren unter § 175 StGB a.F. gesondert unter Strafe gestellt, bis die gesetzgebende Gewalt zur Vernunft kam.

Tatbestandsmäßig wurde lange Zeit auch ein Opfer einer der gegen die ******** Selbstbestimmung gerichtete Straftat handeln, vorausgesetzt, die verwandtschaftlichen Verhältnisse zu dem Täter sind erfüllt. Es käme folglich für die Erfüllung des objektiven Tatbestands gerade nicht auf ein Einverständnis an.

Mithin handelte der- oder diejenige, die zu inzestuösem Beischlaf (*******) genötigt würde, ebenfalls tatbestandsmäßig. Eine Ausnahme dieser Regel sollten lediglich Opfer von absoluter Gewalt (vis absoluta) bilden, wenn das Opfer selbst also keine Tathandlung im Rechtssinne vornehmen kann – beispielsweise das Opfer einer ***********6. [Opfer einer inzestuösen Nötigung würden in solch gelagerten Fällen dem rechtfertigenden Notstand, § 34 StGB unterfallen]. Diese Auffassung ist mittlerweile durch die neue Rechtslage überholt. Wer nicht mit ********* Handlungen einverstanden ist, ist Opfer eines ********* Übergriffs7.

Weiterhin ist nur der Beischlaf zwischen Blutsverwandten strafbar, also zwischen Aszendenten und Deszendenten sowie leiblichen Geschwistern (mit unterschiedlichem Strafrahmen). Demnach entfällt die Strafbarkeit im Falle einer Adoption8. Im Übrigen ist in Ermangelung eines spezifisch personalen Unrechts die „Blutsverwandtschaft“ kein Merkmal im Sinne des § 28 Abs. 1 StGB9.

Fraglich ist auch die Auswirkung einer formell gültigen, jedoch grundsätzlich nach §§ 1307, 1314 BGB aufhebbaren Ehe auf die Strafbarkeit. Hierbei kommt es faktisch zu einem Spannungsverhältnis und zu einem Widerspruch zwischen den ehelichen Verhaltensgeboten und der absoluten Einschränkung des unter Ehegatten üblichen Umgangs miteinander10.

Zusätzlich kommen brisante Fragen im Rahmen der künstlichen Befruchtung auf. Offensichtlich stellt die homo- und heterologe Insemination11 und die Fälle einer In-Vitro-Fertilisation eine absolute Ausnahme dar, die Fragestellungen betreffend die Strafbarkeit sind dabei nicht weniger kritisch. Schließlich entstehen hier Lücken der Strafbarkeit durch den Entfall der Erfüllung des Vollzugs eines Beischlafes, der eine Insemination nicht als Voraussetzung eben dieser Erfüllung kennt und es kommt zu einem Wertungswiderspruch.

Der dritte Absatz des § 173 StGB stellt eine Privilegierung Minderjähriger dar und ist nach hM ein persönlicher Strafausschließungsgrund, kein Tatbestandsausschluss12.

2.) Subjektiver Tatbestand

Subjektiv ist mindestens Eventualvorsatz (dolus eventualis) erforderlich13.

Das kognitive Element, also das Wissen um die Tatbestandsverwirklichung, muss sich logischerweise auf alle objektiven Merkmale erstrecken. Der Täter muss folglich damit rechnen, dass es bei dem Vollzug des Beischlafs um einen Verwandten im Sinne des § 173 StGB handelt.

Geht ein Täter irrig davon aus, dass kein Verwandtschaftsverhältnis vorliegt, etwa weil er überzeugt davon ist, es handele sich bei einem Deszendenten um ein nicht-leibliches – aus einer Affäre gezeugtes – Kind, so stellt dies einen Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB aus, wobei der Vorsatz entfällt.

Einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB unterliegt ein Täter, wenn er irrig annimmt, die Adoption des leiblichen Kindes oder des Geschwisterteils durch einen nicht der Verwandtschaft angehörigen Dritten beende das Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des § 173 StGB.

Der Versuch ist nicht strafbar.

[Auch im Rahmen der Täterschaft und Teilnahme (Mittäterschaft, Mittelbare Täterschaft, etc.), gibt es Fragekonstellationen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.]

B.) Konkurrenzen und Rechtsfolgen

Eine Vielzahl von Taten ist nicht eine fortgesetzte Tat, sondern die Taten sind jeweils konkret festzustellen14.

Eine Tateinheit ist möglich mit § 171, §§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB, 176 StGB, 176a Abs. 2 Nr. 1 und 3 StGB, 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB, 182 StGB15.

Im Rahmen der Strafzumessung sind zu berücksichtigen die Art und Weise der Tatausführung, das Verhalten des ******partners und die Ursachen, insbesondere die innerfamiliären Beziehungen und Verhältnisse16.

II. § 173 StGB – Historie, Systematik & Schutzzweck der Norm

§ 173 StGB greift in die verfassungsmäßigen Grundrechte des Art. 6 Abs. 1 GG (Grundrecht auf Familie) und in die ******** Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein17.

A.) Historie (in relevanten Abschnitten)

Jede Norm hat ihren Urpsrung. Das Frage um die Bewertung und das Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten reicht tatsächlich zurück bis in das Altertum (nicht abschließend: Im Kodex des Hammurapi18, 3. Mose Kap. 18 Vers 6 ff., Koran Sure 4 Vers 23, im Recht der griechischen Antike, im römischen Recht, im germanischen Recht und in frühen deutschen Strafrechtsgesetzen, auf die wir später noch eingehen werden). Das dem aktuellen § 173 StGB am nächsten stehende Vorbild ist der § 173 RStGB (Reichsstrafgesetzbuch) aus dem Abschnitt „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ aus 1871, der folgendes bestimmte:

§ 173 RStGB

(1) Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.
(2) Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.
(3) Neben der Gefängnißstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
(4) Verwandte und Verschwägerte absteigender Linie bleiben straflos, wenn sie das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet haben.

Von bedeutender Relevanz ist die Entwicklung der Norm in der nationalsozialistischen Zeit, in der die Aspekte der Eugenik (in der damaligen Zeit unter dem Gedanken der „Erbpflege“) deutlich in den Vordergrund gerieten. Die darauf folgenden Reformgesetzgeber hatten seither wesentliche Probleme sich von der Tradition eugenischen Denkens zu lösen. Es konnte nicht mehr erreicht werden, dass Argumente durchdringen konnten und ein eindeutiger Schutzzweck der Norm zur Rechtfertigung der Strafbarkeit angeführt werden kann, weswegen die Norm bis heute höchst umstritten ist. Seit über 40 Jahren stehen die Argumente – trotz ihrer Unversöhnlichkeit miteinander – nebeneinander und werden in einem wirren Konstrukt der Alternativen zu einer halbherzigen Kumulation zusammengeführt.

Exkurs: Auch die DDR hat in ihrem Strafrecht den Beischlaf unter Verwandten unter Strafe gestellt, nach § 152 StGB der DDR. Schutzzweck der Norm war in der DDR die „Funktionstüchtigkeit der sozialistischen Familie, Kinder moralisch-sittlich zu erziehen“. Im Übrigen deckte sich der Zweck mit dem des § 173 StGB19.

In ihre heutigen Fassung wurde die Strafnorm durch das 4. StrRG vom 23.11.1974 und das Adoptionsgesetz vom 02.06.1976 – in den 12. Abschnitt des StGB – überführt.

Die praktische Bedeutung gemessen an der Anzahl der Verfahren ist extrem gering. Der Norm liegt vielmehr ein symbolischer Charakter zu Grunde.

Besonderes Aufsehen hat ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 – 2 BvR 392/07 – erregt, nachdem die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf den Prüfstand gestellt wurde. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts stimmten zu diesem Zeitpunkt mit 7 zu 1 Stimmen für eine Verfassungskonformität. Eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welches auf die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK abzielte, blieb erfolglos. Dieser hielt in seiner Entscheidung den § 173 StGB für konventionsgemäß. Erneut in den Fokus gelangen ist die Debatte anschließend durch die Stellungnahme des Ethikrates, der sich mehrheitlich für eine Entpönalisierung des Beischlafes zwischen Verwandten aussprach.

Exkurs: Der überwiegende Anteil der Verfahren in einem solchen Zusammenhang war nicht auf die Anwendung des § 173 StGB beschränkt, sondern stets im Zusammenhang mit einer Straftat gegen die ******** Selbstbestimmung. Dies wird bei dem Rechtsgut noch einmal relevant. Unten stehend habe ich exemplarisch Urteile angeführt20.

B) Systematik

Systematisch reiht sich § 173 StGB in den zwölften Abschnitt des Strafgesetzbuchs ein und fällt somit unter die Reihe der „Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie“. Bereits hier beginnt das Spannungsverhältnis betreffend das Rechtsgut und stößt bei jedem Rechtfertigungsversuch auf augenscheinlich unüberwindbare Hürden.

C) Rechtsgut

1.) Schutz der Familie und der (institutionellen) Ehe

Wie es die Systematik der Norm bereits suggeriert (12. Abschnitt des StGB), könnte der in Art. 6 Abs. 1 GG geforderte Schutz von Ehe und Familie in Frage kommen. Naheliegend ist diese These auch, wenn man einen Blick auf das Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des 4. Strafrechtsreformgesetzes wirft. Danach stellen inzestuöse Verhältnisse eine in der Regel schwere psychische Belastung – insbesondere auch für Minderjährige – bedingt durch ihre Außenwirkung, dar. Dies wird durch mehrere Beschlüsse oberster Gerichte, so bspw. BGH – 2 StR 336/93 –, und BVerfG – 2 BvR 392/07 -, zusätzlich untermauert. Entsprechende Stellungnahmen hierzu finden sich großräumig in den ersten Randnummern des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht selbst führt an, dass inzestuöse Beziehungen zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie strukturgebenden Zuordnung führen und folglich das für eine Familie maßgebliche soziale Gefüge erschüttert sei. Man dürfte zustimmen können, dass eine bereits bestehende Familieneinheit mit sozial üblicher Rollenverteilung grundsätzlich keine neue, nach innen gerichtete und gleichzeitig mit positiver Außenwirkung auftretende Familieneinheit erschaffen kann.

Diese Begründung vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. Wenn die Familie selbst nie zusammengelebt hat, oder es wegen einer Trennung keine räumlich geschlossene Familieneinheit gibt und auch nie geben soll, so läuft der Schutz der Familie in das Leere.

Auf der anderen Seite sind sonstige ******** Handlungen, die keinen tatsächlichen Vollzug des Beischlafes beinhalten, die allerdings evident ebenso geeignet wären, das Familienleben zu beeinträchtigen, straflos. Zudem hat sich das Strafgesetz bereits auf Blutsverwandte beschränkt. Es vermag daher die Frage danach, wieso die gleichen ********* Handlungen in verwandtschaftsähnlichen Verhältnisse, wie beispielsweise unter Stiefeltern, Stiefgeschwister und Stiefkinder – die in ihrer Form gleichermaßen dazu geeignet sind, die Familieneinheit zu zerstören und demnach als strafwürdig einzustufen wären – nicht unter Strafe stehen, nicht zu beantworten.

Zuletzt gibt es einen Wertungswiderspruch im Rahmen des § 173 Abs. 3 StGB, wonach die Strafbarkeit zwischen leiblichen Geschwistern erst zu einem Zeitpunkt beginnt, an dem normalerweise das im Innenverhältnis bestehende, räumliche Zusammenleben der Familie endet (beispielsweise durch einen dauerhaften Umzug).

2.) Schutz vor (repressiven) Erbkrankheiten

Seit über 40 Jahren konnte sich der Gesetzgeber zudem nicht von eugenischen Gesichtspunkten abwenden. Für die Einordnung dieses Schutzzwecks spricht zumindest die gesetzgeberische Intention, dass der Vollzug des Beischlafs in seiner vorliegenden Form die einzige Tathandlung in § 173 StGB ist und die Beischlafhandlung unmittelbar kausal mit der (vermeintlichen) Geburt eines (später potentiell erbkranken Kindes) verbunden ist, ergo auf die Fortpflanzung gerichtet ist.

Zu den potentiellen Entwicklungen von Erbkrankheiten schreibt das BVerfG bei der Würdigung des Sachverhaltes:

„Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne (vgl. BTDrucks VI/1552, S. 14; BTDrucks VI/3521, S. 17 f.). Die dagegen im strafrechtlichen Schrifttum wegen fehlender empirischer Validität dieser Begründung gerichteten Einwände greifen (…) nicht durch. Im medizinischen und anthropologischen Schrifttum wird auf die besondere Gefahr des Entstehens von Erbschäden hingewiesen (…). Diese Erkenntnisse werden durch empirische Studien, von denen das im Auftrag des Senats erstellte Gutachten des Max-Planck-Instituts berichtet, gestützt.“

Ein gewisses, erhöhtes Risiko der Geburt eines erbkranken Kindes besteht demnach aller Wahrscheinlichkeit nach, was mehrere wissenschaftliche Studien belegen können. Das potentielle Schutzgut des § 173 StGB könnte folglich die Verhinderung eines erbkranken Nachwuchses sein. Das wiederum klingt nicht nur dem Wortlaut nach extrem befremdlich, sondern muss auch an mehreren Stellen kritisiert werden, insofern strafrechtlich relevante Zeugungsverbote daran geknüpft werden.

Bereits die Frage nach dem Adressaten im Rahmen eugenischer Gesichtspunkte führt zu nicht zu einer eindeutigen Beantwortung:

Betrifft es das potenziell noch zu gebärende Kind und muss hier innerhalb einer hypothetischen Abwägung zwischen seiner eigenen Nicht-Existenz und einem Leben mit einer (ggf. weiter übertragbaren) Erbkrankheit entschieden werden?

Oder ist Adressat die einer Familie angehörenden Eltern eben dieses potenziell zu gebärenden Kindes mit vermeintlicher (ggf. weiter vererbbaren) Erbkrankheit, wobei das Kind bereits in der Phase der Nicht-Existenz als „Schaden“ angesehen wird und ihm deshalb de facto das Lebensrecht abgesprochen wird?

Bereits diese Grunderwägung steht in krassem Widerspruch zu der eigenen Argumentation des Gesetzgebers im Rahmen seiner Neufassung von § 218a StGB aus dem Jahre 199521.

Die Verhinderung eines potentiell behinderten Kindes kann hier folglich nicht die Begründung sein, die unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten effektiv überzeugt.

Sofern der Fortpflanzungsakt als solcher hier verhindert werden soll, vermag der Aspekt der Eugenik aber genau so wenig zu überzeugen, da die Strafbarkeit in den Fällen entfallen müsste, in denen der Beischlaf zwar vollzogen, jedoch eine (anfängliche) Zeugungsunfähigkeit festgestellt wird – da der entsprechende Schutzzweck praktisch schon nicht erreicht werden kann, mit der vorliegenden Norm des § 173 StGB jedoch in diesem Fall de facto nicht einmal eine Strafmilderung in Betracht käme.

3.) Schutz der ********* Selbstbestimmung

Zwar entgegen der Gesetzessystematik, doch unter anderen Gesichtspunkten könnte der Schutz der ********* Selbstbestimmung als Schutzgut in Betracht kommen.

Unter den §§ 174 ff. StGB wird dem Schutz der ********* Selbstbestimmung allerdings bereits in hohem Maße Rechnung getragen. Nichtsdestotrotz hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 26.02.2008 – 2 BvR 392/07 – eine Fallkonstellation herausgearbeitet, in der theoretisch eine Strafbarkeit für einen spezifischen Tatbestand nur über die Bestimmungen des § 173 StGB ausreichend aufgefangen werden kann:

„Die zu § 173 StGB ergangene Rechtsprechung zeigt zwar, dass sich der Beischlaf zwischen Verwandten oft in rechtlichem Zusammentreffen mit dem ********* Missbrauch von Kindern oder Schutzbefohlenen ereignet. Dem Beischlaf zwischen Verwandten kommt aber auch in diesen Fällen jedenfalls dann eine selbständige Bedeutung zu, wenn sich der Missbrauch eines Kindes über dessen achtzehntes Lebensjahr hinaus erstreckt – beispielsweise in einer Situation, in der es nach Eintritt der Volljährigkeit eines langjährigen Missbrauchs- oder **********opfers zu weiteren ********* Handlungen kommt und das Opfer aufgrund von Abhängigkeiten, die ihre Wurzel in der bestehenden familiären Beziehung haben, seine Ablehnung des nach wie vor unerwünschten Beischlafs nicht so deutlich zu erkennen gibt, dass eine Bestrafung des Täters wegen ********* Nötigung (§ 177 StGB) in Betracht käme. Dass in solchen Konstellationen der Schutz der ********* Selbstbestimmung sogar im Vordergrund stehen dürfte, wird dann besonders deutlich, wenn das volljährige Opfer selbst aufgrund seiner inneren Ablehnung des Beischlafs nicht nach § 173 StGB bestraft wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 1999, a.a.O.).“

Es handelt sich hierbei um einen validen Punkt, der jedoch in der gesamten Würdigung nicht zu überzeugen vermag. Der Gesetzgeber hatte redaktionell hier die Gelegenheit, eine Reform entsprechend einzubringen, dies unterblieb jedoch bis heute.

4.) Schutz der Moral und eines gesellschaftlichen Tabus

Sehr fragwürdig scheint die Betrachtung des möglichen Schutzes der Moral als legitimer Zweck, nichtsdestotrotz ist er im Gesetzgebungsverfahren zum 4. Strafrechtsreformgesetz verankert und sogar in oben benanntem Beschluss des BVerfG anerkannt.

Der „Moral“ liegen hier tradierte, althergebrachte Wertevorstellungen zu Grunde, die eine staatliche Pönalisierung eines Verhaltens, dass gesellschaftlich gemeinhin als „anstößig“ empfunden wurde, rechtfertigt. Heute wird es noch, so auch in dem Beschluss des BVerfG, als „generalpräventives“ Merkmal anerkannt, dem eine „appellative, normstabilisierende (…) Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.“ Summiert man die bisher angeführten Argumente über den Schutz der Familie, den Schutz vor Erbkrankheiten und den Schutz der ********* Selbstbestimmung und betrachtet die historische Entwicklung – darunter die verschiedenen Intention des Gesetzgebers – muss man anerkennen, dass die Aufrechterhaltung der Strafnorm heute einen extrem geringen Anteil an jährlichen Verfahren zum Ergebnis hat und ihr nicht per se eine generalpräventive Wirkung abgesprochen werden kann.

Betrachtet man die Entwicklung des Strafrechts etwas genauer, so wird man schnell feststellen, dass ein Strafrecht, welches die bloße Moralvorstellung schützen soll, problematisch erscheint. Die „Moral“ als solche ist schließlich ein prinzipiell weiter, streitbarer Begriff, der durch einzelne Personengruppierungen unterschiedlich – mit durchaus kontradiktorischem Verständnis und damit mit möglicherweise verheerenden Folgen – ausgelegt und interpretiert werden kann. Dies wurde unter anderem bei Strafnormen wie bspw. § 172 StGB a.F. (Ehebruch) und § 175 StGB a.F. (************ Handlungen) zwar sehr spät, aber folgerichtig deutlich, wobei der Strafgrund der „Moralwidrigkeit“ nicht mehr als tauglich anzusehen ist.

Man darf daher grundsätzlich fragen, ob es bei dieser Abwesenheit eindeutiger Regelungen und bei der dauerhaften Präsenz derartiger Kontroverse eine Freiheitsstrafe nicht doch durch eine andere Maßnahme ersetzt werden kann. Ob die Situation dann insgesamt nicht sogar verbessert werden kann.

Die Stellungnahme des Ethikrates und die Stimmen aus Rechtsprechung sowie Literatur und Psychologen untermauern diese Ansicht, indem Sie auch zur Sprache brachten, dass es häufig Personen betrifft, die bedingt durch ein Trauma oder eine ähnliche psychische Extrembelastung ein entsprechendes Verhalten entwickeln, häufig auch minderbegabte und sozial schwache Personen betroffen sind, die eine generalpräventive Zwecksetzung intellektuell oder physisch-räumlich im Zweifel nicht erreicht.

Es stellt sich die Frage, ob man unreflektiert die Erhaltung einer Strafnorm mit zumindest zweifelhaftem Schutzgut gutheißen und einen sehr streitbaren generalpräventiven Aspekt als Rechtfertigung für eine Inhaftierung und mehrjährige Gefängnisaufenthalte als „korrekte und angemessene“ Form der Bestrafung blindlings akzeptieren, oder ob es nicht andere Wege gibt, durch begleitende Forschung (Sozialwissenschaft, Psychologie) neue Erkenntnisse zu gewinnen und neue Beratungs- sowie Hilfsangebote für Betroffene zu schaffen, die langfristig begleitet werden können und im Sinne einer spezialpräventiven Intervention die Förderung der Rückeingliederung der Person in die Gesellschaft erreichen soll.

5.) Ländervergleich

Ein Blick auf andere Länder der Welt zeigt eine unterstützende Tendenz zur Möglichkeit der Aufhebung oder Revision der Verbotsnorm. In vielen Ländern wird der nicht qualifizierte Beischlaf zwischen Verwandten von der Rechtsordnung als nicht strafwürdig erachtet, darunter Belgien, Frankreich, die Niederlande, Luxemburg, Portugal, Japan, Brasilien, Russland, die Volksrepublik China u.v.m. Dass eine Entkriminalisierung nicht in direktem Zusammenhang mit einem plötzlichen Zuwachs an entsprechenden Fällen liegt, indizieren die durchschnittlichen Fallzahlen pro Jahr.

III. Kurze Würdigung der Frage nach der „Notwendigkeit eines Rechtsguts“

Auf die Frage nach der Notwendigkeit eines Rechtsguts – wie Sie bereits im Rahmen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 gestellt wurde [und auf die von Winfried Hassemer überzeugend eingegangen wurden] – soll in dieser Stellungnahme nicht eingegangen werden, denn Sie würde in ihrem Umfang erheblich den Rahmen sprengen, obgleich es sich tatsächlich um eine essentielle und höchst interessante Frage handelt. Stattdessen folgt eine extrem vereinfachtes Statement:

Solange es kein widerspruchsfreie Bestimmung eines Rechtsguts gibt, wird auch das zu verfolgende Ziel der Strafe nicht verhältnismäßig sein. Insbesondere in den vorbenannten Fällen, die den Tatbestand erfüllen, denen es jedoch an einem eindeutigen und nachvollziehbaren Ziel der Strafverfolgung mangelt, wird die Verhältnismäßigkeit erneut in Frage gestellt werden können. Die Kriminalstrafe als staatliche Reaktion ist evident ein heftiges Mittel mit massiv invasivem Einschnitt in die Freiheitssphäre der Bürgerinnen und Bürger, welche gerade bei freiheitsentziehenden Maßnahmen einer besonderen Legitimation bedarf, die hier nicht erkenntlich ist.

IV. Fazit

Man kann vielen Dingen sicher mit strafrechtlicher Sanktion begegnen, man muss es aber sicher nicht. Zumindest sollte man strafrechtliche Sanktionen grundsätzlich analysieren und hinterfragen. Eine Inhaftierung von insgesamt zwei bis drei Jahren scheint unverhältnismäßig und nicht lösungsorientiert. Bei den Betroffenen handelt es sich überwiegend um Menschen mit Traumata, einem Hang zu Alkohol- und Betäubungsmittelmissbrauch, sozialer Isolation und psychischen Problemen. Angesichts der überschaubaren Verfahrensmenge könnte man dem Problem auch durch geeignetere Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes durch das Jugendamt, durch Weiterbildungen und praktischen Ausbau der Familienhilfe, durch spezifizierte Stellen im Bereich der Suchtberatung und ärztliche Hilfestellung von entsprechenden psychotherapeutischen Einrichtungen. Es dürfte auch eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe sein, eine grundlegende Sensibilität zu entwickeln und sich dem Thema zu stellen, statt die Ausgrenzung mit einem Beitrag zur Isolation voranzutreiben oder das Thema über mehrere Generationen zu ignorieren. Wir könnten alle an einem Strang ziehen und neue Lösungswege suchen – mit der legitimen Möglichkeiten zunächst zu scheitern und den Status Quo beizubehalten(!) – statt unsere eigene, gesellschaftliche Borniertheit weiter zu nähren und uns in blinder Sensationsgier auf Schlagzeilen zu stürzen. Es kann nicht das Ziel sein, sozial isolierte Menschen mit Isolation abzustrafen.

Das war es von mir. Einen schönen (Rest-)Sonntag euch allen!

1   SK-StGB/Wolter Rn. 3

2  MüKo StGB/Ritscher StGB § 173 Rn. 9-10

3  NJW 1961, 2067; entgegen BGH, Urteil vom 13. 3. 1959 – 4 StR 44/59

4  NStZ-RR 2010, 371

5   BeckOK StGB/Ziegler StGB § 173 Rn. 3

6   Schönke/Schröder/Bosch/Schittenhelm StGB § 173 Rn. 3

7   SK-StGB/Wolter Rn. 4

8   Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, StGB § 173 Rn. 3

9   BGHSt 39, 328

10  Schönke/Schröder/Bosch/Schittenhelm, 30. Aufl. 2019, StGB § 173 Rn. 5

12  Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, StGB § 173 Rn. 4

13  Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB-Kommentar, § 173 Rn. 7

14  BGHSt 40, 13

15  Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB-Kommentar, § 173 Rn. 11

16  Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB-Kommentar, § 173 Rn. 12; BVerfG 2 BvR 392/07

17  Für Interessierte: Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz, gerne mal Art. 1 – Art. 20 GG durchlesen

19  NK-StGB/Monika Frommel StGB § 173 Rn. 9

20  EGMR 43547/08; BVerfG 2 BvR 392/07; BGH 4 StR 44/59; BGH 3 StR 361/92; BGH 2 StR 106/03; BGH 3 StR 217/08; BGH 4 StR 342/10; BGH 3 StR 226/18; LG Wiesbaden 2 StR 336/93; LG Düsseldorf 8 O 123/97;
LG Paderborn 05 KLs 112 Js 86510-4010

 

Teil I des Statements findet Ihr hier.

 

Patrick Reingruber (Pressesprecher) und sein Statement zu § 173 StGB
Patrick Reingruber zu § 173 StGB